His Glanzzeit Bild 08Stettin - Lübeck - Hamburg und zurück per Taschenfahrplan Sommer 1935

Erstellt am Donnerstag, 20. Mai 2010
geschrieben von Harro Rhenius und Melchior Leiß

 Es ist das Jahr 1935. Die Lübeck-Büchener Eisenbahn hat umfangreiche Investitionen in Strecken und rollendes Material  beschlossen und zum Teil bereits umgesetzt. Zu nennen wären hier besonders die Oberbauerneuerung und Ertüchtigung der Signaltechnik. Davon profitieren nicht nur der eigene HL - HH Schnellverkehr,  sondern auch die Transitleistungen für Fernverbindungen von Hamburg nach Skandinavien über Rostock - Warnemünde sowie Stettin.

Fahrplan Stettin 05

Versetzen wir uns also einmal in die Lage des (fiktiven) Kaufmannes "Alfred Müller" aus Stettin; dieser Herr Müller möchte nach Hamburg reisen, um dort an einem Freitag Geschäftsverhandlungen zu führen. Es ergibt sich im Verlauf der Reiseplanung, dass er sich am Sonnabend Vormittag in der Lübecker Altstadt umschauen wird,  nach einem Mittagessen im Schabbelhaus bei Niederegger Marzipan und bei von Melle einige wenige Flaschen Rotwein erwerben möchte, um dann am mittleren Nachmittag die Rückfahrt nach Stettin anzutreten.

Im August 1935 ist die Gültigkeitsperiode des "Amtlichen Taschenfahrplans für den Bezirk der Reichsbahndirektion Stettin" bereits recht weit fortgeschritten, und so kann er selbigen für 30 statt 45 Pfg. erwerben.

Seine berechtigte Befürchtung ist zunächst, dass er getreu dem Motto "alle Wege in Preußen führen über Berlin" nach schneller Fahrt mit einem der zahlreichen D- oder E-Züge Stettin - Berlin (KBS 110) im Stettiner Bahnhof in Berlin strandet ohne Verbindung zum Lehrter Bahnhof für die Weiterfahrt nach Hamburg.

Da kennt der "Stettiner Taschenfahrplan" diese Sorgen seiner Fahrgäste und bietet gleich vorne als Einlegeblatt einen Hinweis auf "Günstige durchgehende Verbindungen", u.a. auch nach Hamburg an, und zwar weit nördlich an Berlin vorbei nämlich über Neubrandenburg, Güstrow  und Lübeck! Hier gibt es gleich zwei Empfehlungen: das D-Zugpaar D 1 / D 2 und das Eilzugpaar E 344 / E 345. Denen werden wir uns noch im Detail zuwenden.

Zunächst einmal verweilen wir aber noch auf dieser Seite und stellen fest, dass den Stettinern außer Hamburg (einschließlich nota bene Lübeck!) auch noch Breslau, Hirschberg, Dresden und Leipzig, sowie schließlich Königsberg so wichtig waren, dass diese Ziele hier bereits erwähnt wurden.

Im übrigen wird bezüglich der Verbindung Stettin - Lübeck - Hamburg auf die Abteilungen 32 und 104 verwiesen. Die Abteilung 32 befindet sich im ersten, auf rosa Papier gedruckten, Teil des Taschenfahrplans mit den Fernverbindungen. Die Fernverbindung "32 Stettin - Norddeich" ist wohl doch nur für sehr spezielle Kundschaft interessant, und im übrigen aufgrund der vielen Anschluß- und Zweigverbindungen etwas unübersichtlich.

Schlagen wir also die Seite 96, "Abteilung 104", heute würde man sagen "Kursbuchstrecke 104", auf: Tatsächlich sind die Verbindungen mit dem E 344 am Vormittag bzw. der D 2 nachmittags die einzig durchgehenden Verbindungen mit vernünftigen Reisezeiten. 

 Fahrplan Stettin 01Fahrplan Stettin 02

  Es sind für die ggf. nötige Ergänzung der Wasservorräte mit jeweils mindestens 5 min Aufenthalte vorgesehen in Neubrandenburg, Güstrow, Bützow, und Bad Kleinen; selbst mit modernen Wasserkränen mit 10 Kubikmetern/min eine sportliche Angelegenheit. Und die Zeit zum Umspannen in Lübeck war mit 6 min einschließlich Bremsprobe ene Herausforderung für alle Beteiligten!

Alfons Müller entscheidet sich, für seine Reise am Donnerstag nachmittags einen Platz im D-Zug D 2 mit Abfahrt Stettin 15.23 Uhr zu reservieren. Der Zug hat einen Speisewagen, das Abendessen ist gesichert, und die Ankunft am Hamburger Hauptbahnhof in der Abenddämmerung 5 Stunden und 39 Minuten später gestattet es, ohne Mühen in einem der nahe gelegenen Hotels Quartier zu beziehen.

Während der Reise erweist sich eine dem Taschenfahrplan beigefügte Streckenkarte als hilfreiche Informationsquelle.

 Stettin Karte

Der Kenner weiß natürlich, daß die gestrichelte dicke Linie in der Legende mit dem Kommentar "Privatbahnstrecken mit Schnell- u. Eilzügen" einzig und allein der besonderen Stellung der LBE und der ELE gewidmet ist, und so auch in der Karte berücksichtigt wird!

Alfons Müller plant, nach einer geruhsamen Nacht, erfolgreichen Geschäften in Hamburg am Freitag, einer weiteren Nacht sowie einem ausgiebigen Frühstück im Hotel seine Rückkehr nach Stettin mit Zwischenhalt in Lübeck anhand der Tabelle auf den Seiten 98 und 99 des Taschenfahrplans.

 Fahrplan Stettin 03

 Fahrplan Stettin 04

Für die erste Etappe nach Lübeck liegt die Abfahrt des  D 1 unnötig früh. Der "Skandinavienzug" D7 - trotz 13 Wagen (und zwei S10 im Vorspann!) meist  in der Sommer-Saison brechend voll - wird in diesem Zeitraum aus gutem Grund mit dem D-Zug D 107 ergänzt; Herr Müller entscheidet sich deshalb für diese Verbindung, die ihn um 09:14 Uhr in 53 Minuten an die Trave bringt. In Lübeck angekommen, verläßt er den Skandinavienzug und begibt sich in die Altstadt wie oben geschildert.

Er ist rechtzeitig am Hauptbahnhof, um dann um 16:58 Uhr mit dem Eilzug E 345 die Rückreise nach Stettin anzutreten. Der Eilzug besitzt zwar keinen Speisewagen, eine "Verabreichung von Getränken und Speisen" ist aber vorhanden (Der berühmte "Weinkelch" in den Fahrplänen). In Stettin trifft er 4 Stunden und 52 Minuten später ein - früh genug, um sich zu christlicher Zeit zur Ruhe zu begeben.

Hiermit wollen wir das Rollenspiel im Jahre 1935 beenden mit der Feststellung, dass zumindest für Reisen im gehobenen Fernverkehr keinerlei Nachteile erkennbar sind.

Im Anschluss liegt nun ein Vergleich mit heutigen Verhältnissen einerseits sowie dem Jahre 1Stettin Hamburg 1917917 - also vor den Modernisierungen - andererseit nahe, wohl bewußt, dass hier naturgemäß Äpfel mit Birnen verglichen werden. Staatliche und wirtschaftliche Ordnung haben sich dramatisch verändert, Lebensumstände, Reiseverhalten, Konkurrenz durch das Automobil (z.B. A20!) etc. etc. sind unvergleichbar.  Vielleicht ist die folgende, rein fahrplantechnische, Betrachtung dennoch interessant.

Seit 2006 verkehren wieder an Wochentage 6 Zugpaare direkt ohne Umstieg zwischen dem früheren Stettin, heute Szczecin und Lübeck. Es handelt sich um Regionalexpresszüge der Linie RE 6 auf der KBS 175 und sie benötigen für eine Tour der 297 km langen Strecke rund 4 Stunden und 45 Minuten. Gefahren werden sie mit Dieseltriebwagen BR 628/928 - neben bei bemerkt die längste Distanz, die derzeit mit dieser Baureihe zurückgelegt wird.

Zur Weiterfahrt nach Hamburg gibt es dann nach rund 15 min Aufenthalt die Regionalexpresszüge mit DOSTOs und BR 1143/112 Bespannung, reine Fahrzeit 41 min. Alles in allem ist man von Stettin bis Hamburg  5 Stunden und 55 Minuten unterwegs, also rund eine viertel Stunde länger als 1935 auf derselben Strecke; davon abgesehen etspricht das Komfort-Niveau der RE's natürlich in keiner Weise dem der o.g. D-Züge.

Somit suchen wir auch noch nach Verbindungen über Berlin, die zumindest teilweise diesem Standard entsprechen. Hier ist man Dank der schnellen ICE-Verbindung Berlin - Hamburg nach insgesamt 4 Stunden und 20 Minuten am Ziel.

Dieser Vorteil von 1 Stunde und 20 Minuten kommt natürlich nur auf der Hinfahrt zur Geltung. Eine Rückreise über Lübeck wie die des Herrn Müller im Jahre 1935 würde im Zweig Hamburg - Lübeck genauso wie zwischen Lübeck und Stettin jeweils nur weinige Minuten, d.h. unwesentlich schneller sein, bei - wie schon zuvor erwähnt - deutlich geringerem Komfort.

Das durchgehende D-Zugpaar D 1 / D 2 wird laut Wikipedia bereits 1905 erwähnt. Diese offenbar recht beliebte - und deshalb langlebige - Verbindung ist deshalb geradezu ideal für einen direkten Vergleich mit den Zeiten vor der generellen Ertüchtigung der Strecken. Die Fahrzeit im Jahre 1917 betrug auf der Strecke Stettin - Hamburg mit dem D 2 insgesamt 6 Stunden und 50 Minute, und damit gut eine Stunde länger als 18 Jahre später.

Der Fahrtzeit Lübeck - Hamburg mit 1 Stunde und 7 Minuten im Jahre 1917 stehen 1935 mit genau 1 Stunde von D 1  und zwei Halten sowie 54 Minuten non-stop mit D 7 / D 107 jedoch nur unwesentliche Fahrzeitverkürzungen gegenüber. Zum einen war der Ausbau Bad Oldesloe - Lübeck auf den für 120 km/h ertüchtigten Oberbau mit S49 Profilen noch nicht fertig, zum anderen waren die Loks der S10-Familie ohnehin nur auf 110 km/h ausgelegt; hinzu kam die Tasache, dass diese Fernzüge lang und schwer waren und damit träge beschleunigten, nsbesondere auf der relativ kurzen Distanz Lübeck - Hamburg mit Zwischenhalten ein Handycap, dass regelmäßig Doppelbespannun erforderte -  wie mit vielen Fotos belegt.

Erst die relativ leichten Doppeldeckzüge Züge mit hoher Beschleunigung und 120 km/h Höchstgeschwndigkeit konnten non-stop ab 1936 diesen Vorteil nutzen, und so die Zeit auf 40 Minuten reduzieren - ein Wert, der heutzutage selbst von den ICE's und IC's - wenn überhaupt - nur um wenige Minuten unterboten wird!